Zu den artenreichsten Ökosystemen der Erde gehören Binnengewässer. Doch diesen eintigartigen Lebensräumen droht Gefahr.  Staudämme könnten den letzten natürlichen Lebensräumen  den Garaus machen.
Angesichts des weltweiten Booms der Wasserkraft fordern Wissenschaftler verbesserte Standards für den Bau und Betrieb von Anlagen.  Diese biologische Vielfalt sei bereits heute stark gefährdet, das Artensterben werde sich weiter beschleunigen, befürchten die Forscher. Sie präsentieren jetzt erstmals eine globale Datenbank, die es erlaubt, den Umfang und die möglichen Auswirkungen der zukünftigen Dämme zu bestimmen.
3700 Staudämme in Bau
Derzeit befinden sich 3700 große Staudämme, vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern, im Bau oder in Planung. Dabei ist Wasserkraft zwar eine erneuerbare, aber nicht zwingend eine klimaneutrale und umweltfreundliche Energiequelle. Große Ströme – wie der Amazonas oder der Ganges – werden zunehmend und oftmals unumkehrbar verbaut.
Weltweit könnte so bald jeder fünfte der verbliebenen, freifließenden Flüsse für Fische und andere Lebewesen nicht mehr durchwanderbar sein. „Dies stellt ein ernstzunehmendes Risiko für die einzigartige biologische Vielfalt in den betroffenen Regionen dar“, sagt Prof. Christiane Zarfl vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und von der Universität Tübingen, die die Ergebnisse jetzt in Kopenhagen präsentierte. Forscher fordern deshalb deutlich verbesserte Standards für die Errichtung und den Betrieb von Wasserkraftanlagen.
Erneuerbare Energien werfen neue Fragen und Probleme auf
Mit der rasanten Nachfrage nach erneuerbaren Energien ist für die Wasserkraft eine neue Ära angebrochen. Investitionen in diesem Sektor haben sich binnen der letzten Jahre mehr als verzehnfacht. Allein der Bau dieser zukünftigen Anlagen wird geschätzte 1,5 Billionen Euro kosten. Der Boom ist vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern in Südamerika, Südostasien sowie Afrika zu spüren – und damit in jenen Regionen, die einen Großteil der biologischen Vielfalt unseres Planeten beherbergen. Gerade die Binnengewässer zählen zu den artenreichsten Ökosystemen weltweit. Schon heute ist diese Vielfalt stärker gefährdet als im Meer oder an Land. Zusätzliche Staudämme werden diesen Rückgang noch weiter beschleunigen, befürchten Wissenschaftler.
In vielen Regionen werden Flüsse unwiederbringlich verbaut
Heute tragen erneuerbare Energien bereits etwa 20 Prozent zur globalen Stromproduktion bei, davon stammen allein 80 Prozent aus Wasserkraft. Erneuerbare Energien gelten gemeinhin als umwelt- und klimafreundlich. Sie sind es allerdings nicht immer: „So unterbricht jeder Staudamm den Längsverlauf der Flüsse und verändert das Abfluss-, Sediment- und Temperaturregime. Der Sedimentrückhalt führt flussabwärts von Dämmen zur Eintiefung des Flussbetts, und aus den Stauseen, insbesondere in den Tropen, entweichen große Mengen an Treibhausgasen“, erklärt Prof. Zarfl, die zusammen mit Kollegen vom IGB und der Universität Osnabrück eine Studie dazu durchgeführt hat. „Zudem werden etwa 21 Prozent der heute noch freifließenden großen Flüsse in zehn bis zwanzig Jahren nicht mehr durchwanderbar sein.“ Dieser Effekt führe weltweit zum Verlust an Lebensräumen und Arten, so die Forscher.
Brisante Lage in Indien, China und in der Türkei
Besonders brisant sei die Lage in China, Brasilien, Indien und Nepal, aber auch am Balkan und in der Türkei. In der Amazonasregion, im La-Plata-Becken sowie in der Ganges-Brahmaputra-Region und im Yangtse-Becken sollen die meisten Staudämme errichtet werden.
In Europa boomt hingegen der Ausbau von Kleinkraftanlagen. „Diese tragen nur wenig zur Energiesicherung bei, „verbrauchen“ dabei aber überproportional viele natürliche Ressourcen in Form von freifließenden und durchwanderbaren Gewässerabschnitten”, sagt IGB-Direktor Prof. Klement Tockner, der die Forschung des Instituts auf dem Gebiet der Wasserkraft leitet. „Trotz EU-Wasserrahmenrichtlinie, in der ein Verschlechterungsverbot für Gewässer verankert ist, werden viele der selbst in Deutschland nur noch selten zu findenden freifließenden Bäche unwiederbringlich verbaut.”
Erste globale Datensammlung zu Staudämmen veröffentlicht
Die Wissenschaftler präsentieren jetzt erstmals eine globale Datenbank, die es erlaubt, den Umfang und die möglichen Auswirkungen der zukünftigen Dämme zu bestimmen. Das Besondere daran: Die Daten werden mit globalen Biodiversitätsdaten (www.freshwaterbiodiversity.eu) verknüpft, um die ökologisch kritischen Gebiete zu identifizieren. „Wir hoffen, dass unsere Ergebnisse damit für Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger als wertvolle Grundlage bei der Erforschung und Förderung nachhaltiger Wasserkraftentwicklung dienen“, sagt Christiane Zarfl. Das Wissen, wann und wo welche Dämme gebaut werden, sei dafür unabdingbar.
Doppelte Stromkapazität auf Kosten von Biodiversität und natürlichen Ressourcen
Die Daten zeigen, dass binnen der nächsten zwei Jahrzehnte weltweit 3700 Großstaudämme hinzukommen werden. Dies könnte die Stromkapazität aus Wasserkraft nahezu verdoppeln. Das Wachstum wird jedoch bei Weitem nicht ausreichen, um die globale Stromnachfrage durch Wasserkraft auch nur annähernd zu decken, betonen die Forscher.
„Vor diesem Hintergrund ist es unerlässlich, bei der Errichtung neuer Staudämme einen systematischen Managementansatz zu verfolgen, der sowohl ökologische als auch soziale und wirtschaftliche Konsequenzen von allen bereits vorhandenen und geplanten Dämmen innerhalb einer Flussregion berücksichtigt“, meinen Christiane Zarfl und Klement Tockner. Die Stromgewinnung durch Wasserkraft müsse gründlich gegen die Beeinträchtigung von Wasserressourcen, biologischer Vielfalt und Ökosystemleistungen abgewogen werden. Dies beinhalte auch die Umsiedlung von Menschen, den Verlust natürlicher Ressourcen sowie eine unverhältnismäßige Verteilung von Kosten und Gewinnen.
Die Wissenschaftler fordern deshalb deutlich verbesserte Standards für die Errichtung und den Betrieb von Wasserkraftanlagen. Die sollen nicht nur helfen, die Stromerzeugung zu optimieren, sondern gleichzeitig auch deren negative Auswirkungen zu minimieren.