Die Bundesregierung beabsichtigt 40 Milliarden Euro für die Energiewende in den deutschen Bergbaurevieren bereitstellen. Nun hat die  Forschungsgruppe „CoalExit“ Optionen für einen sozialverträglichen und zukunftsfähigen Strukturwandel ausgelotet und ist zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen. Sie treten für neue Wege in der Förderpolitik der Wirtschaft ein.
„Aus unserer Sicht wäre es fatal, würden Wirtschaft und Politik weiterhin so lange wie möglich an den Arbeitsplätzen in der Braunkohle festhalten“, sagt Dr. Pao-Yu Oei, Leiter der Forschungsgruppe „CoalExit“ am Fachgebiet Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik der TU Berlin. Das 15-köpfige Team untersucht, wie der Kohleausstieg in den vier Braunkohlerevieren mit ihren zehn Tagebauen in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt bis 2038 sozialverträglich umgesetzt werden kann.
Ausstieg Alternativlos
Die These der TU-Forscher ist, dass jene Landkreise und Kommunen im Vorteil sein werden, die als Pioniere vorangehen und unverzüglich damit beginnen, Ideen für die Zeit nach der Kohle zu erarbeiten. „Die Bundesregierung stellt viel Geld bereit“, so Oei. „Die Einstellung auf den Wandel ist alternativlos.“ Wer erst 2035 damit beginne, den Kohleausstieg zu managen, für diese Kommunen könnte es zu spät sein.
Ein Gebot der Stunde ist, so die Analyse, für die nun in Ausbildung oder Studium startende junge Generation Job-Perspektiven jenseits der Kohle zu entwickeln. Für einen 50-jährigen Baggerfahrer sei es schwer, sich eine berufliche Alternative vorzustellen, aber ein jetzt 16-Jähriger werde kaum so fixiert sein, die berufliche Zukunft nur in einem Braunkohletagebau zu sehen, so Pao-Yu Oei. Schule, Politik, Wirtschaft seien gefragt, laut und ehrlich zu sagen, dass eine solche Berufswahl keine Zukunft haben werde. Fahrlässig wäre es, die Jugendlichen in diese Sackgasse laufen zu lassen. Wobei zum Beispiel die Lausitz einer Zukunft als Energieregion nicht abschwören müsse, aber eben mit erneuerbaren Energieträgern. Ehrlich sei es auch zu betonen, dass die Arbeitsplätze der jetzigen Arbeitnehmer vom avisierten Kohleausstieg bis 2038 nicht betroffen seien. In 19 Jahren sei ein Großteil davon in Rente und die anderen durch Übergangsprogramme abgesichert, sagt Oei.
Prosperierende Landstriche in kürzester Zeit wird es nicht geben
Eine Voraussetzung für einen sozialverträglichen Kohleausstieg sehen Pao-Yu Oei und sein Team darin, aus den Fehlern der Förderpolitik nach der Wende zu lernen. Dazu gehört, den Menschen keine blühenden (Industrie-)Landschaften zu versprechen und nicht zu verschweigen, dass ein solcher Strukturwandel für die eine Region schwieriger sein werde als für die andere. „Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich zum Beispiel die Lausitz innerhalb kürzester Zeit in einen prosperierenden Landstrich verwandle. Und dass es diesen Aufschwung nicht geben wird, hängt noch nicht einmal mit dem Ausstieg aus der Braunkohle zusammen, sondern ist ein generelles Problem ländlicher, strukturschwacher Regionen – die gezeichnet sind durch Abwanderung, Fachkräftemangel und fehlenden Mittelstand. In der Uckermark besteht das gleiche Problem seit 30 Jahren, und dort gibt es noch nicht einmal einen Kohleausstieg“, so Oei.
Aus den Fehlern der vergangenen Förderpolitik zu lernen, dazu gehört für die Wissenschaftler*innen auch, das wirtschaftliche Heil nicht ausschließlich in Großinvestoren zu suchen. Die zögen gegebenenfalls schnell wieder weiter, wenn sie anderswo fette Beute witterten und zurückblieben wieder tausende Arbeitslose und Frust und Enttäuschung, sagt Oei.
Er und seine Kollegen und Kolleginnen entwerfen deshalb für eine Förderpolitik ein anderes Szenario. Sie plädieren für eine Förderung vor allem von Ideen der Menschen, die aus der Region kommen, von kleineren Innovationszentren, kleineren Betrieben, von Start-ups, um einen Mittelstand aufzubauen, der wurzelt und in der Region Steuern zahlt.
Allein mit Arbeitsplätzen zu werben reicht nicht
Doch neben der Entwicklung einer den Kohleausstieg begleitenden Wirtschaftsperspektive hält Pao-Yu Oei noch etwas für entscheidend: Die Politik muss mit den Menschen vor Ort Vorstellungen entwerfen, was die jeweilige Region neben Arbeitsplätzen künftig lebenswert machen solle, was sie als Identifikation biete, damit die Menschen sich nicht weiterhin für Leipzig, Dresden oder Potsdam als Wohnort entscheiden, sondern für Spremberg oder Görlitz, weil sich Familien in diesen beiden Städten vielleicht ein Haus mit Garten leisten können, in Dresden aber nur eine 60 Quadratmeter Wohnung. Allein mit Arbeit zu werben reicht, so die TU-Wissenschaftler, als Zugpferd längst nicht mehr. Ursache dafür sei der Fachkräftemangel, der sich wegen des demografischen Wandels als Problem zudem verstärken wird. Qualifizierte und gut bezahlte Arbeit gibt es auch anderswo, in Regionen, die neben Arbeit mit einem lebenswerten Umfeld werben können – mit Kindergärten, Schulen, medizinischer Versorgung, Verkehrsanbindung, bezahlbarem Wohnraum, kulturellen Einrichtungen, Naherholungsmöglichkeiten und auch mit einem gut unterstützten Fußballverein. Sie verfügen also über all das, was mit dem Begriff der Lebensqualität erfasst wird. „Neben der Entwicklung einer Wirtschaftsperspektive muss eine Idee für eine zivilgesellschaftliche Attraktivität mitgedacht und nicht als nachgeordnetes Anhängsel betrachtet werden“, betont Oei. Eine funktionierende Infrastruktur wird zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor für die Regionen werden.
Des Weiteren hat die Analyse der TU-Wissenschaftler ergeben, dass die Lokalpolitiker unbürokratisch Geld zur Verfügung gestellt bekommen müssen, mit dem sie experimentieren und entscheiden können im Sinne ihrer Bürgerinnen und Bürger. Das kann dann auch die Unterstützung eines niedrigschwelligen Projektes sein. Ein Vorschlag der TU-Leute ist, Fördergeld für zivilgesellschaftliche Aktivitäten in einer lokal ansässigen Stiftung zu verwalten, die das Geld vergeben kann. „Nicht jeder ist einem komplexen Antragsverfahren der EU gewachsen“, so Oei. „Vor allem darf das Geld nicht nur in die Entschädigung der Energiekonzerne fließen, also in Kanäle, in die das Geld immer fließt.“
Es ist ein kleinteiligeres Herangehen, wofür das „CoalExit“-Team plädiert, um den unausweichlichen Strukturwandel, vor dem die Braunkohleregionen stehen, zu bewerkstelligen. Eines, was nicht ausschließlich von wirtschaftlichen Faktoren wie Wirtschaftswachstum und Bruttoinlandsprodukt getrieben ist, und was einer reinen Leuchtturmpolitik kritisch gegenübersteht. Ein politisches Agieren, was den Mut hat, auch in Projekte zu investieren, die nicht sofort den großen wirtschaftlichen Output bringen, aber vielleicht den Nährboden schaffen für zivilgesellschaftliches Engagement und Verbundenheit in den betroffenen Kommunen. Das Team „CoalExit“ sieht darin die nachhaltigere Politik.