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Dass die große Schmelze dem Menschen anderes zu sagen hat, kommt den wenigsten in den Sinn.
Dabei ist die Botschaft klar. Wer Ohren hat zu hören, der höre: Klimawandel und Erderwärmung sind Ereignisse, denen die Menschheit nur dann wird begegnen können, wenn sie ihren alten Selbstdeutungen abschwört. Der Homo Oeconomicus, der von dem Glauben zehrt, der Mensch sei wesentlich ein partikulares Wesen und als solches ein rationaler Egoist, dessen Lebenssinn darin besteht, sich im unaufhörlichen Konkurrenzkampf aller gegen aller zu behaupten und Profit daraus zu schlagen, wird dem Klimawandel nicht gewachsen sein. Im Gegenteil: Er wird untergehen
müssen, denn die Flut des schmelzenden Eises duldet keine Egoismen und keinen Konkurrenzkampf.
Nicht anders ergehen wird es dem Bruder des Homo Oeconomicus, dem Homo Faber. Seit den Tagen des René Descartes (1596-1650) bildet er sich ein, als maître et possesseur de la nature sein höchst eigenes Dominium Terrae auf Erden errichten zu dürfen. Doch wird das schmelzende Eis ihn eines Besseren belehren: Nicht der Mensch ist der Herr der Natur. Und ihr Meister schon gar nicht. Ganz im Gegenteil: Er ist ihr Teil, sie meistert ihn, er ist von ihr abhängig. Er ist Natur.
Um der Erderwärmung gewachsen zu sein, werden wir anders denken lernen müssen. Wir werden das moderne westliche Denken verabschieden müssen. Wir werden begreifen müssen, dass wir in Wahrheit und wesentlich weder isolierte Einzelwesen sind, noch Konkurrenten auf dem Markt des Lebens. Wir werden lernen müssen, dass die Natur nicht das Andere und deshalb bloß Nutzbare des Menschen ist, sondern der Mensch eine Variation der Natur.
Wir werden einen Geist kultivieren müssen, der älter und ursprünglicher ist als alle modernen Philosophien: einen Geist der Verbundenheit und Zugehörigkeit. Nur dieser Geist wird das Eis in den
Menschenherzen schmelzen. Er wird das Dogma der Vereinzelung als Illusion entlarven; er wird uns zurückbinden an die große Natur, deren Kinder wir sind. Er wird es tun, er muss es tun. Sonst gibt es keine Rettung. Das Schmelzen des Eises nimmt uns in Anspruch. Diesem Anspruch mit unserem Handeln Antwort zu geben, ist unsere Verantwortung. Nur eine verantwortliche Antwort ist möglich: das Eis in den Herzen schmelzen, die Herzen der Menschen verschmelzen – verschmelzen zum Bewusstsein der Zusammengehörigkeit und der Zugehörigkeit. Zusammengehörig als eine
Menschheit, zugehörig zum einen Kosmos.
Das Schmelzen des Eises bringt die Wahrheit. Es bringt das Leben in Fluss. Es löst die Erstarrung. Es bringt zu Tage, was lange verborgen war. Es lichtet unser wahres Wesen. Es könnte uns erleuchten. – Was ist unser wahres Wesen? Es ist Verbundenheit, Zugehörigkeit. Wir sind Wesen der Verbundenheit, nicht der Separation. Wir sind Wesen der Zugehörigkeit, nicht der Isolation. Wir sind Kinder des Kosmos, nicht Herren und Meister der Natur. Das Schmelzwasser der Gletscher kann unseren Geist reinigen.
Es kann unser Denken klären. Wird das der Fall sein? Werden wir erkennen, dass wir zusammengehören, dem Kosmos zugehören? Werden wir dem Eis Gehör schenken? Werden wir die Gletscher hören? „Wir können“, sagt Angaangaq, „lernen, der Stimme dieses Gebirges aus Eis zu lauschen. Es spricht zu uns in einer Sprache aus lang vergangener Zeit – so alt, dass niemand ihr Alter kennt. Ganz wie die Zeit selbst, die reglos vor uns steht – in Erwartung der Entscheidungen, die du treffen wirst und deren Pfad du folgen wirst. Es ist die Zeit gekommen zu lauschen – zu lauschen –
immer mehr zu lauschen. Dem Ton deines eigenen Herzens zu lauschen.“
Was sagt der Ton des eigenen Herzens? Was spricht das aufgetaute Herz? Es spricht: Verbinde dich! Es spricht: Werde dir deiner Verbundenheit bewusst! Es spricht: Erkenne, dass dir die Welt und jeder andere dem Wesen nach verbindlich ist. Es spricht: Lebe diese Wahrheit – die Wahrheit, dass du dem Ganzen zugehörst; diese Wahrheit, die von allen indigenen und traditionellen Kulturen des Ostens und des Westens Jahrzehntausende lang befolgt wurde. Nur von uns nicht mehr.
Zu lange schon leben wir in der Unwahrheit, leben wir der Wahrheit entgegen. Zu lange währt die Illusion, in die Homo Faber und Homo Oeconomicus uns einzulullen wussten. So lange währte sie, dass all das Unheil seinen Lauf zu nehmen begann. So lange, dass der Wahn der Trennung dazu führte, dass wir den Sinn fürs Ganze ganz verloren haben.
Wir sehen uns nicht mehr als Kinder der Erde. Wir haben die Natur zerstört. Um unseres Profites willen. Um der Befriedigung unserer kleinen Bedürfnisse willen. Um der Besänftigung unserer Ängste willen. Wir sind dem Kult des Geldes erlegen, haben um seinetwillen die natürlichen Grundlangen unseres Lebens vergiftet. Wir haben in Unwahrheit geschwelgt und uns mit Verve etwas vorgemacht. Nun kommt die Wahrheit an den Tag. Das Schmelzwasser der Gletscher spült die Illusion dahin. Das Große Eis bewahrt die Wahrheit. Es fordert sie unerbittlich ein. Das ist
die tiefe Bedeutung der Gletscherschmelze. Sie nimmt uns in den Anspruch einer Wahrheit, von der die avancierte Naturwissenschaft schon lange kündet. Sie lautet: Sein ist Verbundensein; und Leben ist ein kollektives Projekt.
So sagt der Biologe und Philosoph Andreas Weber: „Biologen begreifen, dass Leben ein Phänomen absoluter Gemeinschaftlichkeit ist.“Und er führt dies aus, indem er betont: „Die Prinzipien, die sich aus den Forschungen der Biologen herausschälen, zeigen, dass Leben auf nahezu jeder Ebene eine kollektive Angelegenheit ist, eine gemeinsame Unternehmung verschiedenster Wesen, die nur, indem sie einander irgendwie ertragen und sich einigen, zu einem stabilen, funktionsfähigen und damit auch schönen Ökosystem kommen. Konkurrenz, Wettkampf und Auslese im Sinne Darwins spielen sehr wohl eine Rolle – aber nicht als unerbittliches letztes Wort, sondern als eine Kraft unter mehreren, mit denen lebende Systeme sich selbst aus einer Vielzahl von Mitspielern erschaffen und gestalten“. Und diese Beobachtung führt Weber zuletzt zu der Konsequenz: „Am Leben zu sein heißt andauernde, uferlose, immer neue Inszenierung einer Gemeinschaftlichkeit, eines unabsehbaren Netzes von Beziehungen.“
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[…] Essay (2) Bleibt der Erde treu […]
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