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Das zu begreifen und das zu leben: Das sind die Aufgaben, die uns vom schmelzenden Gletschereis gestellt sind – in Grönland, in den Alpen, überall. Es nötigt die Menschheit zu einem radikalen Umdenken, zu einer neuen und zugleich ältesten Sicht auf die Welt und das Leben, deren Ursprünglichkeit ihrer Wahrheit entspricht. Wir müssen anders denken lernen, um dann anders zu handeln.
Wir müssen eine neue Einstellung entwickeln, um uns von der Flut der künftigen Herausforderungen nicht überspülen zu lassen. Wir müssen das Eis in unseren Herzen schmelzen und uns spürend, fühlend und denkend unserer Verbundenheit mit allem Sein bewusst werden. Wir müssen die Botschaft der Gletscher hören und unserer wesentlichen Zusammengehörigkeit Genüge leisten.
Das alles müssen wir tun, wenn wir in Zukunft bestehen wollen. Tun wir es nicht und überlassen stattdessen dem ökonomischen Denken oder dem technischen Können das Heft des Handelns, werden Homo Oeconomicus und Homo Faber die Welt ins Unheil stürzen. Dann werden wir nichts haben, was wir dem schmelzenden Eis entgegensetzen können; dann werden wir nichts von ihm lernen; dann werden wir inmitten einer aufgeheizten Welt an unserer eigenen Coolness und Arroganz erfrieren.
Wenn wir aber zu lauschen beginnen, den Anspruch der Gletscher in unserem Herzen vernehmen und unsere Verantwortung darin erkennen, ihrem Ruf gerecht zu werden – dann mag der Klimawandel uns verwandeln. Dann mögen wir als Verwandelte auf einer eisfreien Erde wandeln – im Wissen darum, dass wir einander und der Erde zugehören. „Ich beschwöre euch, meine Brüder: Bleibt der Erde treu!“ sprach einst Friedrich Nietzsche. Das schmelzende Eis von Grönland spricht nichts anderes.
Das Schmelzen des arktischen Eises kann uns zum Segen werden, wenn es uns denn gelingt, ihm ein Schmelzen des Eises im eigenen Herzen einhergehen zu lassen. Auch davon spricht die Weisheit der arktischen Völker. Man kann es ja auch anders sehen. So wie Angaangaq, der Älteste, der Schamane, der Weise:
„In meiner Heimat ruht die Erde schon seit langem. Der Schnee ist dort so alt, dass aus ihm eine dicke Eisschicht geworden ist. Doch das Eis schmilzt. Endlich entledigt sich Mutter Erde dieses schwer gewordenen Tuches. Nun, da sie es abstreift, wird Mutter Erde wieder lebendig werden. Ein neuer Frühling wird heraufziehen. Ohne dass die Menschen es bemerken, wird dort neues Leben entstehen, wo Tausende von Jahren nur Eis war. Die Erde kennt kein Alter. Sie kennt keine Zeit. Sie ist. Und sie wird sich ihres weißen Tuches entledigen, so dass sie die Wärme der Sonne auf sich spüren kann. Wenn diese Zeit gekommen ist, wird sich die Prophezeiung erfüllen, dass Grönland ein Rosengarten sein wird. Vorher wird es ungemütlich sein auf Erden. Wassermassen werden das Land davon spülen. Es wird wieder frieren und es wird wieder schneien. Doch langsam wird der Schneeschmelzen. Die Liebe und die Glut der Sonne werden das Eis auftauen. Mutter Erde wird zu neuem Leben erwachen und aus ihrem Schoß werden Rosen wachsen. Jetzt ist diese Zeit gekommen. Ist das nicht unglaublich?
Die Zeit ist gekommen, in der das Eis von Mutter Erde genommen wird. Die Tiere werden spielen, und Rosen werden wachsen. Rosen gedeihen nur da, wo es keinen Frost gibt.“
Der Beitrag von Christoph Quarch stammt aus dem Band
Stella Polaris Ulloriarsuaq. Das leuchtende Gedächtnis der Erde
Nomi Baumgartl/Sven Nieder/ Yatri N. Niehaus/Laali Lyberth/Christoph Quarch/Bernd
Arnhold/Angaangaq Angakkorsuaq
184 Seiten, 24 x 34 cm
45 Großformatige Lichtkunstwerke in Farbe, 23 S/W Fotografien im Duplexdruck
[D] 69,00 €
ISBN: 978-3-9814113-3-1
Eifelbildverlag
März 2015
Fotos mit freundlicher Genehmigung des Verlages
[…] Essay (3): Bleibt der Erde treu […]
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